Treppen ins Chaos – und das Geschenk, verstanden zu werden

Vor einiger Zeit erzählte mir meine Klientin Tanja von einem Bild, das sie seit ihrer Kindheit begleitet. Es zeigte Treppen, die in alle Richtungen führten – scheinbar chaotisch, verwirrend, aber gleichzeitig faszinierend. Als sie mir davon berichtete, wurde schnell klar: Dieses Bild war mehr als nur eine Kindheitserinnerung. Es war ein Symbol für ihr inneres Erleben.
Tanja beschrieb, wie sie sich oft fühlt, als würde sie im Sekundentakt ihre Position im Raum und in ihren Gedanken verändern. Springen, drehen, stürzen, aufsteigen – in einem Tempo, das kaum greifbar ist. Lange Zeit dachte sie, sie sei „zu viel“. Zu intensiv, zu unruhig, zu anders. Bis sie die Erfahrung machte, dass jemand ihr wirklich folgen kann. Ohne Erklärungen. Ohne Übersetzungen. Einfach so.
Diese Begegnung hat sie tief berührt – und den Wunsch in ihr geweckt, sich selbst auf einer ganz neuen Ebene anzunehmen. Was sie mir erzählte, hat auch mich bewegt. Und ich möchte diese Gedanken hier mit dir teilen, weil ich glaube: In Tanjas Geschichte steckt viel, was auch andere kennen. Vielleicht ja auch du.
1. Ein Raum voller Treppen
In ihrer Kindheit gab es ein Bild, das Tanja immer wieder in ihren Bann zog. Sie weiß nicht mehr genau, wo sie es gesehen hat – in einem Buch, an einer Wand, vielleicht auf einer Postkarte. Aber das Bild selbst hat sich tief eingebrannt.
Darauf waren unzählige Treppen zu sehen. Sie verliefen nach oben, unten, seitlich, manche sogar kopfüber. Keine logische Ordnung, kein erkennbares System. Alles war in Bewegung. Alles war möglich. Und obwohl es auf den ersten Blick wirr wirkte, hatte es eine eigene, geheimnisvolle Logik.
Tanja konnte sich stundenlang in diesem Bild verlieren. Damals verstand sie nicht, warum es sie so anzog. Aber heute weiß sie: Dieses Bild zeigt genau das, was sie innerlich erlebt.
2. Ein inneres Erleben in Bewegung
„Meine Gedanken bewegen sich selten linear“, sagt sie. „Ich bin auf einer Stufe, im nächsten Moment schon ganz woanders. Und manchmal habe ich das Gefühl, ich stehe auf dem Kopf.“ Es sei ein ständiges Wechselspiel – zwischen Klarheit und Verwirrung, zwischen Orientierung und völliger Reizüberflutung.
Es gebe Tage, da tanze sie über all diese inneren Stufen hinweg – leichtfüßig, voller Energie. Und andere, in denen sie sich in diesem System verirrt. Dann wird es mühsam, anstrengend, isolierend.
„Ich habe immer gedacht, dass ich deswegen falsch bin“, erzählt sie. „Weil ich gemerkt habe, dass viele Menschen um mich offensichtlich nicht so sind.“ Ihre Gedanken schienen sortiert. Ruhiger. Überschaubarer. Als würde dort drin alles in Reih und Glied stehen – während in ihr ständig Bewegung war.
3. Das große Missverständnis
Über Jahre hinweg versuchte sie, sich anzupassen. Ihre Gedanken zu ordnen. Ihre Sprache zu bremsen. Sie sprach von „Bruchteilen“, die sie übermitteln konnte – von inneren Übersetzungsprozessen, die nötig waren, damit sie überhaupt verstanden wurde.
„Ich dachte wirklich, ich bin zu viel. Dass ich andere überfordere, wenn ich so spreche, wie ich denke. Also habe ich gelernt, mich zu filtern. Und trotzdem kam oft nur ein kleiner Teil von mir an.“
Was für andere vielleicht eine Kleinigkeit war – ein Gespräch, eine Rückfrage, ein Zuhören – war für sie ein innerer Balanceakt. Immer mit der Sorge, ob sie verstanden wird, ob sie gerade abschweift, ob sie sich wieder verliert.
4. Eine neue Erfahrung: Wenn plötzlich jemand folgen kann
Und dann war da plötzlich jemand, der ihr folgen konnte. Ganz einfach so. Ohne verlangsamte Sätze. Ohne innere Korrekturschleifen. Sie sprach – wie sie eben spricht – und merkte: Diese Person hört nicht nur zu, sie versteht. Nicht nur die Worte, sondern die Bewegungen dahinter. Die Sprünge. Die Zwischenräume.
„Ich konnte von einem Gedanken zum nächsten springen – und die andere Person war schon da. Ich musste nichts übersetzen. Nichts filtern. Ich durfte einfach sein.“
Diese Erfahrung war für sie zutiefst neu. Und zutiefst heilend. Denn zum ersten Mal fühlte sie sich nicht falsch, sondern ganz. Nicht zu viel, sondern genau richtig.
5. Was diese Erfahrung mit ihr macht
„Das ist so ein schönes Gefühl“, sagt sie leise. „Dieses Erleben, dass man sich ungefiltert mitteilen darf – und jemand da ist, der einen einfach so annimmt, ohne große Erklärungen. Das ist neu für mich. Und unglaublich wohltuend.“
Etwas in ihr beginnt sich zu entspannen. Etwas, das lange angespannt war. Vielleicht ein Teil, der sich über Jahre hinweg angestrengt hat, „normal“ zu wirken. Jetzt darf dieser Teil loslassen. Jetzt darf er atmen.
Diese Erfahrung verändert ihren Blick. Auf andere – und auf sich selbst. Vielleicht war sie nie „zu viel“. Vielleicht war sie einfach nur nicht oft am richtigen Ort. Und vielleicht muss sie sich nicht mehr anpassen, sondern einfach wiederfinden, was von Anfang an da war: ihre eigene innere Logik. Ihre eigene Wahrheit.
6. Ein Plädoyer für radikale Annahme
Tanja sagt heute: „Ich will dich ermutigen, dich radikal selbst anzunehmen – mit all dem, was zu dir gehört. Solange du meinst, dich zurückhalten zu müssen und dich anderen anpassen zu müssen, wird das Leben für dich anstrengend bleiben. Mal mehr, mal weniger.“
Und sie weiß, wovon sie spricht. Denn sie hat sich aufgemacht. Sie hat begonnen, sich selbst zu erforschen. Ihre Hochsensibilität. Ihre möglicherweise unerkannte Hochbegabung. Und sie hat gemerkt: Wenn man sich selbst erlaubt, „anders“ zu sein, statt sich dafür zu verurteilen – dann beginnt das Leben sich zu verändern.
Ich wünsche dir, dass du dich wiedererkennst in diesen Zeilen. Dass du mutig wirst, dich nicht mehr zu verstecken. Dass du Menschen findest, die dich nicht „verstehen wollen“, sondern dich einfach erkennen. Und bis dahin – sei du selbst diese Person für dich.
Du bist nicht zu viel. Du bist einfach du.
Über Tanja
Tanja ist eine Frau mit einem außergewöhnlich lebendigen Innenleben. Viele Jahre lang hatte sie keine Worte dafür – bis sie sich auf die Reise machte, ihre eigene Persönlichkeit tiefer zu erforschen. Vermutlich trägt sie eine unentdeckte Hochbegabung in sich. Ihre Hochsensibilität war ihr lange nicht bewusst. Doch seit sie sich diesen Themen öffnet, hat sich etwas Grundlegendes verändert: Sie hat die Handbremse gelöst. Und beginnt, sich selbst mit anderen Augen zu sehen.