Boreout: Wenn Unterforderung zum inneren Widerstand wird

Was ist Boreout eigentlich?
Boreout ist das Gegenteil von Burnout: Statt Überforderung herrscht chronische Unterforderung. Du langweilst dich zu Tode, fühlst dich überflüssig, deine Fähigkeiten verkommen. Typische Symptome: emotionale Taubheit, Erschöpfung ohne erkennbaren Grund, das Gefühl, unsichtbar zu werden.
Wichtig: Bei Boreout helfen die Standard-Burnout-Lösungen nicht. Mehr Ruhe verschlimmert das Problem. Menschen mit schnellem, vernetztem Denken brauchen das Gegenteil: mehr vom Richtigen, nicht weniger vom Falschen.
Anders als bei Burnout entwickelt sich hier oft ein subtiler innerer Widerstand – gegen die Situation, gegen Veränderung, manchmal gegen sich selbst.
Eine Geschichte aus meiner Praxis: Tanjas Teufelskreis
Kennst du dieses schwer fassbare Gefühl? Eine Mischung aus Gefühllosigkeit und Erschöpfung. Du bekommst kaum noch etwas auf die Reihe, deine Welt schrumpft zusammen. Ein unsichtbares Visier scheint heruntergegangen zu sein. Der drängende Gedanke: „Ich muss kündigen. Sofort.“ Aber wie es weitergehen soll? Keine Ahnung.
So steckte Tanja fest – und das nicht zum ersten Mal.
Von heute auf morgen fühlte sie sich wie ein Häufchen Elend. Letztens ging es ihr doch noch so gut. Sie konnte sich nicht erklären, was schon wieder los war. Tanja schwankte zwischen zum Arzt gehen und sofort kündigen. Ihre Gefühle schien sie gar nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Sie stand ständig wie in einem Gefühlsball, statt einen in der Hand zu halten. Selbst der Hund sprang regelmäßig fast auf die Straße, sobald sie sich dem Eingang der Firma näherten.
Sie fühlte sich wie eingefroren und wusste nicht, wie es weitergehen könnte. Sie konnte kaum noch das leisten, was vorher mit Leichtigkeit möglich war. Irgendwann würde es jemandem auffallen – und sie hatte wirklich Sorge, dass das für sie nicht gut ausgehen würde.
Auch der Kontakt zu den Kollegen gestaltete sich zu einem gefühlten Desaster. Sie hatte den Eindruck, gar nicht mehr in Kontakt zu sein. Die 8 Stunden am Schreibtisch konnte sie nicht mehr ertragen und verschwand so oft es ging ins Homeoffice.
Da sie schon einiges an Vorarbeit geleistet hatte, konnten wir direkt ins Geschehen reinspringen und analysieren, was gerade los war.
Der erste Versuch: Reden hilft nicht immer
Vor Monaten hatte Tanja das Gespräch mit ihrem Chef gesucht. Ihr Anliegen war klar: „Ich brauche nicht mehr vom Gleichen, sondern neue Herausforderungen.“
Ergebnis? Totales Missverständnis. Tanja bekam alle Kunden zurück, die sie abgegeben hatte. 15 Kunden für sie, einen für den Kollegen. Mehr Arbeit, aber dieselbe öde Routine.
„Es ist nur mehr vom Gleichen“, sagte sie frustriert. „Nichts hat sich geändert.“
Der Wendepunkt: Wenn Standard-Lösungen versagen
In unserer gemeinsamen Arbeit erkannten wir: Tanja denkt schnell, vernetzt und divergent. Sie braucht komplexe Herausforderungen, kreative Lösungswege und Abwechslung. Routineaufgaben sind für sie wie geistiges Gift.
Das Problem: Alle gut gemeinten Ratschläge gingen ins Leere. „Sei doch froh, dass du nicht gestresst bist“ oder „Routine gibt Sicherheit“ – solche Sätze machten alles schlimmer. Was anderen hilft, schadet ihr.
Die neurologische Realität: Ihr Gehirn brauchte komplexe Herausforderungen als „Betriebsstoff“. Ohne diese Komplexität schaltet es ab – nicht aus Faulheit, sondern aus mangelnder geistiger Nahrung. Wie ein Hochleistungsmotor, der nur im ersten Gang gefahren wird.
Interessant war: In einer Coaching-Ausbildung hatte sie sich genauso gefühlt. Der Gedanke, sich irgendwelche Probleme auszudenken oder alte Probleme wieder zu reaktivieren, erzeugte bei ihr nur Widerstand. Sie hatte dieselben Gefühle von Taubheit und dem Eindruck, nicht in Kontakt gehen zu können, wie bei der Arbeit.
Ihre Dozentin stellte die Hypothese auf, dass ihr inneres System Widerstand als Schutz vor Veränderung und Auseinandersetzung mit eigenen Lernaufgaben nutzte. Genau diese Hypothese brachte uns darauf, dass es ihr mit der Arbeit genauso ging.
Sie hatte sich bis jetzt noch nie klar geäußert, was genau sie braucht, um für ihre Firma ihr Potenzial einsetzen zu können. Sie hatte sich nicht gezeigt mit ihrem So-Sein und auch keinerlei Raum für sich beansprucht. Das äußerte sich auch dadurch, dass sie keine Aufgaben an ihre Assistenz delegierte, sondern versuchte, alles selbst zu erledigen, um ja nicht zur Last zu fallen oder jemanden zu überlasten. Dabei vergaß sie sich selbst komplett. Genau das zeigte ihr Körper ihr.
Meine Beobachtung: Menschen mit diesem Denkstil brauchen maßgeschneiderte Lösungen. Standard-Ansätze sind nicht nur nutzlos, sie sind kontraproduktiv. Das Gegenteil der üblichen Empfehlung ist oft der richtige Weg.
Das zweite Gespräch: Ehrlichkeit statt Anpassung
Beim nächsten Chef-Gespräch wagte Tanja etwas anderes:
Maximale Ehrlichkeit: Sie versteckte nichts mehr, beschrieb ihre Situation ungefiltert. Dadurch musste der Chef nicht rätseln oder kritisieren – er verstand endlich.
Keine Forderungen: Tanja kam ohne Lösungsvorschläge oder Erwartungen. Das nahm Druck raus und schuf Raum für echte Begegnung. Sie erwartete nicht mehr, dass ihr Chef sie „rettet“ oder die perfekte Lösung liefert.
Radikale Eigenverantwortung: Statt „Mach, dass es mir besser geht“ übernahm sie die Verantwortung für ihre Situation. Erwartungen sind oft unerfüllte Bedürfnisse – in einem erwartungsfreien Raum kann echte Klarheit entstehen.
Selbsterklärung: Sie erklärte, wie sie tickt und unter welchen Bedingungen sie ihr Potenzial entfalten kann.
Das überraschende Ergebnis: Resonanz verändert alles
Der Chef begann plötzlich, von seinen eigenen Struggles zu erzählen. Tanja erkannte: Er war ähnlich gestrickt wie sie. Eine Verbindung entstand.
Sein spontaner Vorschlag: „Delegier die Routineaufgaben und konzentriere dich auf Konzeptarbeit. Außerdem führe ich dich in einen neuen Bereich ein.“
Mit dieser Erlaubnis konnte Tanja endlich ohne schlechtes Gewissen delegieren.
Die Wende: Von Widerstand zu Energie
Was dann passierte, hatte sie nicht erwartet: Sie arbeitete mit einer Energie und Ausdauer, die wochenlang verschwunden gewesen war. Echter Wandel statt nur mehr Arbeit.
Meine Erkenntnis: Der Weg von der Fremd- zur Selbststeuerung
In Tanjas Fall war Boreout ein Symptom für verschiedene Formen des Widerstands:
- Widerstand gegen weiteres Funktionieren ohne Sinn
- Widerstand gegen die Rolle der ewig Angepassten
- Widerstand gegen die Angst, „zu viel“ oder „zu anders“ zu sein
Dieser Widerstand war berechtigt. Er zeigte ihr, wo sie sich selbst verleugnet hatte.
Dahinter steht ein größeres Konzept: der Weg zur Selbstermächtigung durch fünf aufeinander aufbauende Schritte:
Selbstgestalten → Ich erkenne, dass ich Einfluss habe
Selbstverantwortung → Ich übernehme die Verantwortung für meine Situation
Selbstregulation → Ich lerne, meine Reaktionen zu steuern
Selbstorganisation → Ich strukturiere mein Leben entsprechend
Selbstermächtigung → Ich handle aus eigener Kraft
Bei Tanja wurde das sichtbar:
- Sie hörte auf, sich als Opfer zu sehen (Selbstverantwortung)
- Sie lernte, ihre Widerstandsgefühle zu deuten statt blind zu reagieren (Selbstregulation)
- Sie strukturierte das Chef-Gespräch neu (Selbstorganisation)
- Sie kommunizierte ihre Bedürfnisse (Selbstermächtigung)
- Sie gestaltete ihre Arbeitsrealität aktiv um (Selbstgestalten)
Was das für dich bedeuten könnte
Wenn du dich in Tanjas Geschichte wiedererkennst, frag dich:
- Wogegen leistest du gerade Widerstand?
- Die eigene Situation richtig verstehen: Bekommt mein Gehirn die Komplexität, die es braucht?
- Wo passt du dich an Standard-Lösungen an, obwohl sie dir schaden?
Besonders wenn du schnell denkst, kreativ bist und dich oft „anders“ fühlst: Die üblichen Ratschläge funktionieren bei dir wahrscheinlich nicht. Du brauchst mehr Herausforderung, nicht weniger. Mehr Abwechslung, nicht mehr Routine. Mehr Komplexität, nicht mehr Vereinfachung.
Manchmal ist Boreout ein Zeichen: Dein System wehrt sich gegen das Falsche und weist den Weg zum Richtigen.
Die Frage ist nicht: „Wie werde ich den Widerstand los?“ Sondern: „Was will mir mein Widerstand sagen? Und wie komme ich von der Fremd- zur Selbststeuerung?“
Das ist ein erwachsenes Menschenbild: Nicht „Du bist Opfer deiner Umstände“, sondern „Du hast mehr Handlungsspielraum, als du denkst.“
Erkennst du dich in dieser Geschichte wieder? Wenn du Unterstützung bei ähnlichen Herausforderungen suchst, lade ich dich zu einem 30-minütigen Kennenlerntermin ein.